Textauszug Band 2

Lesen Sie hier einen Textausschnitt aus dem 6. Kapitel des zweiten Buches

Der 22. März 1964 war ein Sonntag. Nachmittags war es zwar kühl, aber sonnig. Tante Margot und Onkel Franz saßen im Wohnzimmer ihres Hauses in Zehlendorf am Fenster und tranken Kaffee. Endlich einmal gab es fast wolkenlosen Himmel, und Tante Margot empfand das als vielversprechendes Omen, um zu einem Entschluss zu kommen, was den Brief von Katharina anbetraf. Seit jenem Herbsttag 1943 bewahrte sie ihn auf, anfangs versteckt unter den alten Lumpen im Keller, auf denen Puck Zuflucht suchte, wenn er Angst hatte. Sie lächelte in sich hinein: Nicht mal die russischen Soldaten hatten dort nachgeschaut, damals. Später hatte sie eine Holzschatulle genommen, den Umschlag dort hineingelegt und das Kästchen im Schlafzimmer unter ihrer Leibwäsche deponiert. Außer ihr wusste nur Franz davon, und sie beide hatten nicht die leiseste Ahnung, was das Kuvert enthielt.

Sie sah die Szene von 1943 nochmals vor ihrem geistigen Auge: Katharina, die ihr wie eine Bittstellerin erschienen war, wenige Wochen, nachdem sie Curt und Heinrich von Rothensteyn nach Zehlendorf in ihr Haus geholt hatte, ungeachtet der bedrohlichen Bombenangriffe auf Berlin. Es war klar gewesen, dass die Kinder nach den Ereignissen in Rothensteyn nicht mehr dort bleiben wollten. Insbesondere Curt hasste die dortige Wohnung abgrundtief.

Sie hatte Katharina in der Fabrik getroffen, wo sie an den wenigen Tagen, an denen sie nicht unterwegs war, an Orten und für Dinge, die sie stets im Unklaren hielt, im ehemaligen Pförtnerhaus eingezogen war. Sie hatte angerufen und gebeten, zu ihr zu kommen, sie habe ihr etwas Wichtiges anzuvertrauen. Sie solle den Kindern nichts davon sagen. Auf ihre Nachfrage, was es gäbe, hatte sie lediglich kurz geantwortet, sie könne am Fernsprecher nicht davon reden.

Sie wusste noch, wie sie mit sehr gemischten Gefühlen zur Fabrik gelaufen war. Was mochte Katharina vorhaben? Seit einiger Zeit schon, genau genommen seit mehreren Jahren, waren sie sich fremd geworden. Sie hatte nicht vergessen, wie sich Katharina verhalten hatte, als dieser seltsame Unfall mit Albert, Curts und Heinrichs Vater und mit Heinrich passiert war. Und es war ihr seit langem klar, dass sie eine Liaison mit Goebbels hatte und Albert betrog – der, da war sie sich sicher, das selbst genau gewusst hatte… Aber Katharina war nun mal ihre Schwester, die Mutter von Curt und Mucko. Wegen der beiden Kinder vor allem, die ihr so ans Herz gewachsen waren, zumal sie selbst keine Kinder bekommen hatte, war sie auf die Versöhnungsbitten von Katharina eingegangen.

Beim Betreten des Fabrikgeländes war sie von einem Mann angehalten worden, in dem sie den Betriebsleiter erkannte. Was sie hier zu suchen habe, hatte er barsch gefragt. Sie wollte ihm gerade ihre Meinung sagen, als Katharina erschien und rief: „Sie kennen doch meine Schwester, Herr Granster.“ Daraufhin drehte sich der korpulente Mensch mit mürrischem Gesicht um, ließ sie wortlos stehen und verschwand in Richtung Bürogebäude.

Katharina hatte sie kurz umarmt, was sie mit leichtem Widerstreben geschehen ließ; denn diese Geste war zwischen ihnen seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen. Anschließend gingen sie ins Haus. Katharina wirkte angespannt und bedrückt, und sie selbst hatte sich gehemmt gefühlt, unruhig, aber auch gerührt. Sie spürte, dass ihre Schwester eine schwere Entscheidung getroffen haben musste. Hätte jemand gefragt, wieso sie diese Empfindung in sich wahrnahm, sie hätte keine Antwort geben können. Es war einfach eine Ahnung, fast eine Gewissheit.

Katharina hatte ihr nichts angeboten, kein Getränk, hatte sie nicht einmal aufgefordert, sich zu setzen. Das fand sie schon merkwürdig, akzeptierte es jedoch, weil sie registrierte, wie nervös ihre Schwester war. Sie zog sie mit auffälliger Eile in die Küche und sprach mit gesenkter Stimme und ängstlichem Unterton. „Margot, ich weiß, das kommt dir jetzt alles komisch vor. Aber ich habe meine Gründe, so vorsichtig zu sein“ – „Was ist denn los, Katharina? Warum sollte ich so plötzlich herkommen?“

Ihre Schwester ging auf ihre Fragen nicht ein. Sie sprach gehetzt. „Hör‘ zu, Margot, ich habe lange und lange überlegt, was ich machen soll. Es gibt da etwas, das mich seit über einem Jahr bedrückt und beschäftigt. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen, aber ich hab‘ alles aufgeschrieben, hier, in diesem Brief.“ Sie reichte ihr einen dicken Umschlag. „Ich bitte dich, ihn aufzuheben, so dass ihn niemand findet, Margot. Versprich mir das! Du bist der einzige Mensch, der mir geblieben ist, zu dem ich Vertrauen hab‘. Bis auf die Kinder natürlich, aber die sind noch zu klein.“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Ach Margot… wenn du wüsstest!“ Dann fasste sie sich. „Auf diesem Umschlag steht alles Nötige drauf. Tust du mir den Gefallen?“ Sie blickte Margot flehend an.

Tante Margot erinnerte sich, dass sie einen kurzen Augenblick gezögert hatte, aus Furcht, in eine Sache hineingezogen zu werden, mit der sie nichts zu tun haben wollte. Dann hatte sie Katharinas Niedergeschlagenheit und Verzweiflung gesehen und genickt. Sie las flüchtig die Aufschrift auf dem Kuvert: ‚Für Curt und Heinrich. Dieser Brief soll ihnen keinesfalls vor dem 16. April 1964 ausgehändigt werden. Sollte ich an diesem Tag noch leben, soll mir dieser Umschlag ungeöffnet zurückgegeben werden. Katharina Ehrenberg geb. Framdorf‘


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