Textauszug Band 1

Lesen Sie hier einen Textausschnitt aus dem 3. Kapitel des ersten Buches

Es war am 17. Mai des Jahres 1940. Am Abend konnte Curt lange Zeit nicht einschlafen und schreckte auch während der Nacht immer wieder hoch. Vater hatte zwar zu ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, und sogar Mutter war zu ihm ans Bett gekommen, um ihn zu beruhigen. Aber er träumte doch wirres Zeug, von Tigern, die ihn brüllend und in weiten Sprüngen verfolgten, oder dass er in der Schule vorlesen sollte und sein Buch nicht finden konnte, gleichgültig, wie intensiv er suchte. Seltsamerweise hatte er keine Träume, die sich um das bevorstehende Konzert drehten. Erst wenn er wach lag und in die Dunkelheit des Zimmers starrte, tauchten Gedanken auf, er könne sich verspielen oder auch, dass er, wie gestern, wieder über die Stufe stolperte. Denn es war für ihn ungewohnt, Vater hatte den Flügel auf eine Art Podest stellen lassen. Das wäre schon peinlich, dachte er.

Trotz dieser Ängste rief er nicht nach Mutter oder Vater. Irgendwie hatte er das unbestimmte Gefühl, mit diesen Befürchtungen selbst fertigwerden zu müssen. Auch zu Elli ins Zimmer ging er nicht, wie er es früher immer mal getan hatte, als er noch kleiner war, wenn ihn Sorgen quälten. Elli war immer noch bei ihnen, obwohl viele junge Frauen inzwischen in Fabriken arbeiten mussten oder auch zum Roten Kreuz gegangen waren, als Schwesternhelferinnen und dergleichen, wie Elli selbst ihm erzählt hatte.

Aber Mutter hatte mit Herrn Goebbels geredet und erreicht, dass Elli bleiben durfte, weil Mutter häufig weg war und keine Zeit hatte, auf ihn und Heinrich aufzupassen. Helmut allerdings war jetzt Soldat, und Vater fuhr das Auto selbst. Curt vermisste Helmut sehr, von ihm hatte er viele lustige Sachen gelernt. Berliner Ausdrücke zum Beispiel, aber auch Zaubertricks, wie den, bei dem man einen Würfel in einem Taschentuch verschwinden lassen und ihn dann aus dem Ohr wieder herausholen konnte und solche Dinge. Helmut hätte bestimmt verstanden, dass er in dieser Nacht aufgeregt war und Angst hatte. Curt seufzte und fühlte sich traurig, wenn er an ihn dachte. Helmut hatte zwar versprochen, ihn nicht zu vergessen und gesagt, er werde so rasch wie möglich zurückkommen, aber es war für Curt doch so, als habe er einen guten Freund verloren. Und so ließ er die kleine Nachttischlampe brennen, lag still in seinem Bett und stellte sich vor, er sei ein tollkühner Pilot, der mit seinem Flugzeug bis nach Afrika flog. Oder ein berühmter Sportler, den alle Leute bewunderten und den niemand besiegen konnte. Auf diese Weise dauerte es nicht allzu lange, bis er wieder müde wurde und ihm die Augen erneut zufielen.

Schon früh am nächsten Morgen, es war fast noch Nacht, war er munter. Im Haus schien alles noch zu schlafen. Er setzte sich im Bett auf und übte seine Finger auf der Bettdecke. Tante Margot hatte ihn das gelehrt, es war wirklich eine tolle Sache: Auch ohne Klavier konnte er seine Läufe proben und einstudieren, an jeder Tischkante, am Treppengeländer oder eben auch auf der Bettdecke. Neulich, als er mit Vater im Zug nach Magdeburg gefahren war, hatte er das sogar am Brett des Abteilfensters gemacht. Es hatte ihm gefallen, er fand es lustig, seine Mozartsonate zu üben und dabei die Felder und Dörfer zu sehen, die vorüberzogen. Die Leute hatten zwar erstaunt geschaut, weil sie nicht begriffen, was er da machte, aber er selbst hörte ganz genau die Musik, die er spielte und bemerkte sehr wohl, wenn er danebengriff.

Obgleich Elli die dicken Vorhänge wegen der vorgeschriebenen Verdunkelung fest zugezogen hatte, stieg der Duft der Fliederbüsche durchs leicht geöffnete Fenster. Er saß im Bett, die Zudecke um die Schultern gezogen, damit es kuschelig warm war und sog die Süße tief durch die Nase ein; es mussten die violetten Blüten sein, vom Busch direkt unter seinem Zimmer, denn der Geruch der weißen war nicht so intensiv. Er hatte schon immer Gefallen am Fliederduft gefunden und oft schon gedacht, dass es schön gewesen wäre, einige Wochen später zur Welt zu kommen. Im April, an seinem Geburtstag, blühten allenfalls Maiglöckchen, und auch da musste er schon Glück haben, weil sie oft erst später im Garten erschienen. Schön fand er allerdings auch Schneeglöckchen, mit ihren zarten grün-weißen Blüten und einem ganz dezenten Duft, den die meisten Menschen überhaupt nicht wahrnehmen konnten. Und er liebte Gänseblümchen, denn sie waren die allerersten Blumen gewesen, deren Namen er erlernt hatte. Aber sie rochen nicht so angenehm, hatten ein eher strenges Aroma, nach Feuchtigkeit, Erde und Regenwürmern.

Ihm fiel ein, wie er einmal zu Mutter gesagt hatte, Regenwürmer hätten einen seltsamen Geruch, und er erinnerte sich deutlich daran, wie sie ihr Gesicht verzogen und ihm gesagt hatte, er solle nicht solche ekligen Sachen erzählen. Er verstand damals ihre Reaktion nicht und schämte sich ein bisschen; auch jetzt, als er erneut daran dachte, konnte er nicht begreifen, warum Mutter so angewidert gewesen war. Aber anders als seinerzeit musste er heute grinsen, wenn er sich vorstellte, welche Miene sie gemacht hatte. Auch Elli hatte gemeint, das sei fies, als er zu ihr sagte, Regenwürmer hätten einen eigenen Geruch. Und sie hatte sehr mit ihm geschimpft, als er Heinrich ein Knäuel aus Würmern unter die Nase gehalten und ihn aufgefordert hatte zu sagen, ob die nach etwas riechen würden. Wieder musste er lachen, als er die Szene vor seine Augen bekam. Heinrich hatte sich überhaupt nicht geekelt, sondern die Würmer genommen und sie sich über seine Ohren gehängt, einen links und einen rechts. Elli war fast verrückt geworden, hatte die Würmer mit spitzen Fingern abgelesen und so weit wie möglich von sich geworfen. Heinrich und er hatten danach fast nicht mehr aufhören können zu lachen, und auch jetzt wackelte sein ganzes Bett, weil er so kichern musste.

Es tat gut, zu lachen. Er merkte, dass dadurch die Angst vor dem heutigen Konzert weniger wurde. Vielleicht sollte er einige Regenwürmer in die Blumenkübel setzen, die neben dem Flügel standen. Dann könnte er immer, wenn er Angst bekam, daran denken und sich vorstellen, wie sie zu Mutter oder Elli oder zu Frau und Herrn Goebbels oder irgendwelchen anderen Gästen krabbelten.

Die Idee, so absurd sie war, gefiel ihm, und er beschloss, direkt nach dem Frühstück heimlich im Garten ein paar Regenwürmer zu sammeln; er wusste sehr gut, wo sie zu finden waren: im Komposthaufen, hinter der Garage. Aber aufpassen musste er, Elli durfte ihn nicht erwischen oder sonst jemand. Und seine Kleider und seine Hände durften nicht schmutzig werden. Vielleicht war es doch besser, er würde Heinrich fragen, ob er die Würmer holte. Der war zwar erst sechs, aber den Regenwurmplatz kannte er auch; nur war es wichtig, ihm einzubläuen, dass er nichts verraten durfte.

Tante Margot, Elli und auch Mutter waren schon auf, als er beschloss, sich in Heinrichs Zimmer zu stehlen, um ihn auf ›Regenwurmpirsch‹ zu schicken. Diesen Ausdruck hatte er sich ausgedacht, denn Onkel Franz erzählte gerne davon, wie er als Jäger im Wald auf die Pirsch ging. Er hatte ihm auch erklärt, wie man sich bei der Pirsch an das Wild anschlich.

Heinrich lag noch völlig verschlafen im Bett. Doch sobald er hörte, um was es ging, war er Feuer und Flamme und wollte sofort los, schlug sogar vor, einige von den Viechern Elli in die Schürzentasche zu stecken. Aber das verbot Curt. Es wäre schrecklich, dachte er, wenn Elli oder jemand anderes plötzlich zu quietschen oder zu kreischen anfinge, weil diese glitschigen braunen Würmer sich wirklich irgendwo herumschlängelten. Fast bereute er schon seine verrückte Idee. Doch nun hatte er die Sache angeleiert, und Heinrich würde sich nicht davon abbringen lassen, das war ihm klar.

Beim Frühstück saß Mutter mit am Tisch. Das kam selten vor. Sie war auch in dieser Woche erst von einer Reise zurückgekehrt, bei der sie in Prag und Pilsen im Protektorat Böhmen und Mähren, wie sie sagte, gesungen und Erfolge gefeiert hatte. Tante Margot und Vater hörten höflich-aufmerksam zu, während Mutter ihr Leid von der »langweiligen Reise«, dem »grauenvollen Essen«, den »unfassbar heruntergewirtschafteten Konzertsälen« und der »zum Himmel schreienden Unterbringung« klagte. Hauptsächlich seien es deutsche Offiziere und Soldaten gewesen, die ihre Konzerte besucht hätten. »Die einheimische Bevölkerung ist offensichtlich an Kultur nicht interessiert!« Und als Vater mit seltsam verhaltener Stimme meinte, ob die »einheimische Bevölkerung« – er sprach das besonders betont aus – möglicherweise die Aufführungen nicht habe besuchen können oder dürfen, bemerkte Curt den scharf missbilligenden Blick, den Mutter über den Tisch sandte. Das löste in ihm ein ungutes Gefühl aus, und so fragte er ablenkend, wer zu seinem Konzert am heutigen Tag denn eingeladen sei.

Tante Margot ergriff die Gelegenheit. »Frau und Herr Goebbels kommen mit Helga und wollen unter Umständen Hildegard mitbringen. Auch Herr Göring hat zugesagt, seine Frau allerdings ist verhindert. Außerdem haben sich noch einige Offiziere und Musiker angesagt, die deine Mama kennt.« Mutter hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie beschäftigte offensichtlich Anderes. »Und Karajan, dieses junge Genie, hat in Mailand an der Scala am vergangenen Donnerstag einen Riesenerfolg gehabt!«, äußerte sie, ohne auf Curts Frage zu achten.

Vater ging nicht auf Mutters Schwärmerei ein. Er blickte Curt an. »Na, Junge, heute gilt’s! Göring und Goebbels kommen bestimmt nicht zu allen Leuten. Das hast du Mama zu verdanken, die mit ihnen bekannt ist. Und natürlich Tante Margot!« Die lächelte. »An erster Stelle, Curt, ist es dein Verdienst, wenn so hochgestellte Zuhörer kommen. Schließlich spielst du wunderbar Klavier, mit deinen neun Jahren. Ich hab‘ mit Herrn Goebbels und Herrn Göring nichts zu tun. Und jetzt lass uns nach unten gehen, du solltest alles noch mal durchspielen. Der Klavierstimmer ist auch schon gekommen, hörst du ihn? Wo ist eigentlich Heinrich? Elli, schauen Sie mal nach ihm? Danke.«

Beim Gang nach unten in den Salon hörte Curt fremde Stimmen. Neben dem Klavierstimmer, den er schon damals bei Mutters Konzert kennengelernt hatte, und der zu ihm gesagt hatte, er solle ihn ›Martin‹ nennen, standen zwei Uniformierte und unterhielten sich. Als er fragend Tante Margot anschaute, zuckte die nur mit den Schultern und machte ein missmutiges Gesicht. »Sind wahrscheinlich zur Sicherheit für die hohen Herren hier!«, raunte sie ihm ins Ohr, »Das soll uns nicht weiter stören.« Dann wandte sie sich den beiden Männern zu. »Meine Herren, guten Morgen.« – »Heil Hitler!«, schallte es postwendend zurück, so dass Curt zusammenzuckte. Tante Margot jedoch ließ sich nicht beirren. Sie blickte die beiden durchdringend an und reckte ihr kleines, energisches Kinn streng nach oben. »Guten Morgen. Meine Herren, wir haben zu arbeiten. Herr Schurmann« – Curt begriff, dass das Martin war – »muss das Instrument stimmen, und unser Curt« – sie deutete auf ihn – »ist der Pianist und muss anschließend sein Repertoire üben. Denn Herr Generalfeldmarschall Göring und Herr Minister Goebbels sollen heute Nachmittag ein hervorragendes Konzert zu hören bekommen. Bitte lassen Sie uns daher nun allein.« Curt bemerkte, dass Tante Margot ihre Stimme anhob, als sie von Göring und Goebbels sprach, und er staunte insgeheim, wie fehlerlos sie deren komplizierte Titel aussprach.

Die beiden Uniformträger drehten sich prompt um und verschwanden durch die Tür in den Vorraum. Curt hatte das Gefühl, sie hätten beinahe »zu Befehl« gesagt, und das gefiel ihm und verstärkte seine Bewunderung für Tante Margot, die immer so gelassen-mutig war. Fast wie Helmut, ging ihm durch den Kopf, und er war froh, dass sie da war. Noch schöner wäre es natürlich gewesen, wenn auch Onkel Franz hätte hier sein können, aber der war irgendwo beim Militär, wo genau, wusste Curt nicht.

Martin hatte der kleinen Szene recht unbeteiligt zugesehen, allenfalls für den Bruchteil einer Sekunde meinte Curt, ein amüsiertes Augenzwinkern zu bemerken. Er war auch schon nach kurzer Zeit mit dem Stimmen des Flügels fertig und nickte Curt Mut machend zu. »Na, da bin ich mal gespannt, Herr Konzertmeister! Deine Mutter und deine Tante haben ja davon geschwärmt, wie du spielst, und auch von anderen habe ich gehört, dass du ein richtiger Virtuose geworden bist. Ich drück‘ dir die Daumen!« Tante Margot lächelte erneut. »Vielen Dank, Herr Schurmann. Wie sieht es denn für Sie aus, bleiben Sie uns auch zukünftig erhalten?« – »Nach allem, was mir zur Zeit gesagt wird, schon. Man betrachtet mich Gott sei Dank als unabkömmlich.« Er schmunzelte. »Die maßgeblichen Stellen halten meine Arbeit wohl für ›extraordinär‹, daher bin ich für die ›künstlerische Reputation des Reichs‹ unverzichtbar.« Er sprach das Wort ›extraordinär‹ mit näselndem Klang aus, und auch die ›künstlerische Reputation des Reichs‹ hörte sich so an, als ob er seine Nase hoch in den Himmel heben würde. Curt musste lachen, obgleich er nicht wusste, was diese Ausdrücke bedeuteten…


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